A. Raum und Zeit

a. Der Raum
§ 254

Die erste oder unmittelbare Bestimmung der Natur ist die abstrakte Allgemeinheit ihres Außersichseins, - dessen vermittlungslose Gleichgültigkeit, der Raum. Er ist das ganz ideelle Nebeneinander, weil er das Außersichsein ist, und schlechthin kontinuierlich, weil dies Außereinander noch ganz abstrakt ist und keinen bestimmten Unterschied in sich hat.

Es ist vielerlei über die Natur des Raums von je vorgebracht worden. Ich erwähne nur der Kantischen Bestimmung, daß er wie die Zeit eine Form der sinnlichen Anschauung 9/41 sei. Auch sonst ist es gewöhnlich geworden, zugrunde zu legen, daß der Raum nur als etwas Subjektives in der Vorstellung betrachtet werden müsse. Wenn von dem abgesehen wird, was in dem Kantischen Begriffe dem subjektiven Idealismus und dessen Bestimmungen angehört, so bleibt die richtige Bestimmung übrig, daß der Raum eine bloße Form, d. h. eine Abstraktion ist, und zwar die der unmittelbaren Äußerlichkeit. - Von Raumpunkten zu sprechen, als ob sie das positive Element des Raums ausmachten, ist unstatthaft, da er um seiner Unterschiedslosigkeit willen nur die Möglichkeit, nicht das Gesetztsein des Außereinanderseins und Negativen, daher schlechthin kontinuierlich ist; der Punkt, das Fürsichsein, ist deswegen vielmehr die und zwar in ihm gesetzte Negation des Raums. - Die Frage wegen der Unendlichkeit des Raums entscheidet sich gleichfalls hierdurch (§ 100 Anm.). Er ist überhaupt reine Quantität, nicht mehr nur dieselbe als logische Bestimmung, sondern als unmittelbar und äußerlich seiend. - Die Natur fängt darum nicht mit dem Qualitativen, sondern mit dem Quantitativen an, weil ihre Bestimmung nicht wie das logische Sein das Abstrakt-Erste und Unmittelbare, sondern wesentlich schon das in sich Vermittelte, Äußerlich- und Anderssein ist.

Zusatz. Indem unser Verfahren dies ist, nach Feststellung des durch den Begriff notwendigen Gedankens, zu fragen, wie er in unserer Vorstellung aussehe, so ist die weitere Behauptung, daß dem Gedanken des reinen Außersichseins in der Anschauung der Raum entspreche. Irrten wir uns auch hierin, so ginge das nicht gegen die Wahrheit unseres Gedankens. In der empirischen Wissenschaft hat man den umgekehrten Weg einzuschlagen; in ihr ist die empirische Anschauung des Raums das erste, und dann erst kommt man auf den Gedanken des Raums. Um zu beweisen, daß der Raum unserem Gedanken gemäß sei, müssen wir die Vorstellung des Raums mit der Bestimmung unseres Begriffs vergleichen. Die Erfüllungen des Raums gehen den Raum selbst nichts an; die Hier sind eins neben dem andern, ohne sich zu stören. Das Hier ist noch nicht Ort, sondern nur Möglichkeit des Ortes; die Hier sind vollkommen dasselbe, und diese abstrakte Vielheit - ohne wahrhafte 9/42 Unterbrechung und Grenze - ist eben die Äußerlichkeit. Die Hier sind auch unterschieden; aber der Unterschied ist ebenso kein Unterschied, d. h. es ist der abstrakte Unterschied. Der Raum ist also Punktualität, die aber eine nichtige ist, vollkommene Kontinuität. Setzt man einen Punkt, so unterbricht man den Raum; aber der Raum ist schlechthin dadurch ununterbrochen. Der Punkt hat nur Sinn, insofern er räumlich ist, also gegen sich und anderes äußerlich ist; das Hier hat in ihm selbst wieder ein Oben, Unten, Rechts, Links. Was nicht mehr in ihm selbst äußerlich wäre, nur gegen Andere, wäre ein Punkt; aber den gibt es nicht, weil kein Hier ein Letztes ist. Stelle ich den Stern auch noch so weit, so kann ich darüber hinausgehen; die Welt ist nirgends mit Brettern zugenagelt. Dieses ist die vollkommene Äußerlichkeit des Raumes. Das Andere des Punkts ist aber ebenso Außersichsein als er, und daher sind beide ununterschieden und ungetrennt; der Raum ist jenseits seiner Grenze als seines Andersseins noch bei sich selbst, und diese Einheit im Außereinander ist die Kontinuität. Die Einheit dieser beiden Momente, der Diskretion und Kontinuität, ist der objektiv bestimmte Begriff des Raums; dieser Begriff ist aber nur die Abstraktion des Raums, die man oft für den absoluten Raum ansieht. Man denkt, dieses ist die Wahrheit des Raums; der relative Raum ist aber etwas viel Höheres, denn er ist der bestimmte Raum irgendeines materiellen Körpers; die Wahrheit des abstrakten Raumes aber ist vielmehr, als materieller Körper zu sein.
Eine Hauptfrage der Metaphysik war, ob der Raum für sich real sei oder nur eine Eigenschaft der Dinge. Sagt man, er ist etwas Substantielles für sich, so muß er wie ein Kasten sein, der, wenn auch nichts darin ist, sich doch als ein Besonderes für sich hält. Der Raum ist aber absolut weich, er leistet durchaus keinen Widerstand; von etwas Realem fordern wir aber, daß es unverträglich gegen Anderes sei. Man kann keinen Raum aufzeigen, der Raum für sich sei; sondern er ist immer erfüllter Raum und nie unterschieden von seiner Erfüllung. Er ist also eine unsinnliche Sinnlichkeit und eine sinnliche Unsinnlichkeit; die Naturdinge sind im Raume, und er bleibt die Grundlage, weil die Natur unter dem Bande der Äußerlichkeit liegt. Sagt man wie Leibniz, der Raum sei eine Ordnung der Dinge, die die νοούμενα nichts angehe, und er habe seine Träger an den Dingen, so werden wir gewahr, daß, wenn man die Dinge wegnimmt, die den Raum erfüllen, doch die räumlichen Verhältnisse auch unabhängig von den Dingen bleiben. Man kann wohl sagen, er sei eine Ordnung, denn er ist allerdings eine äußerliche Bestimmung; aber er ist nicht nur eine äußerliche Bestimmung, sondern vielmehr die Äußerlichkeit an ihm selbst. 9/43

§ 255

Der Raum hat, als an sich Begriff, überhaupt dessen Unterschiede an ihm, [und zwar] α) unmittelbar in seiner Gleichgültigkeit als die bloß verschiedenen, ganz bestimmungslosen drei Dimensionen.

Die Notwendigkeit, daß der Raum gerade drei Dimensionen hat, zu deduzieren, ist an die Geometrie nicht zu fordern, insofern sie nicht eine philosophische Wissenschaft ist und ihren Gegenstand, den Raum mit seinen allgemeinen Bestimmungen, voraussetzen darf. Aber auch sonst wird an das Aufzeigen dieser Notwendigkeit nicht gedacht. Sie beruht auf der Natur des Begriffs, dessen Bestimmungen aber in dieser ersten Form des Außereinander, in der abstrakten Quantität, ganz nur oberflächlich und ein völlig leerer Unterschied sind. Man kann daher nicht sagen, wie sich Höhe, Länge und Breite voneinander unterscheiden, weil sie mir unterschieden sein sollen, aber noch keine Unterschiede sind; es ist völlig unbestimmt, ob man eine Richtung Höhe, Länge oder Breite nennt. - Die Höhe hat ihre nähere Bestimmung an der Richtung nach dem Mittelpunkte der Erde; aber diese konkretere Bestimmung geht die Natur des Raums für sich nichts an. Jene vorausgesetzt, ist es auch noch gleichgültig, dieselbe Richtung Höhe oder Tiefe zu nennen, so wie für Länge und für Breite, die man oft auch Tiefe heißt, nichts dadurch bestimmt ist.

§ 256

β) Aber der Unterschied ist wesentlich bestimmter, qualitativer Unterschied. Als solcher ist er 1. zunächst die Negation des Raums selbst, weil dieser das unmittelbare unterschiedslose Außersichsein ist, der Punkt. 2. Die Negation ist aber Negation des Raums, d. i. sie ist selbst räumlich; der Punkt als wesentlich diese Beziehung, d. i. als sich aufhebend, ist die Linie, das erste Anders-, d. i. Räumlichsein des Punktes; 3. die Wahrheit des Andersseins ist aber die Negation der 9/44 Negation. Die Linie geht daher in Fläche über, welche einerseits eine Bestimmtheit gegen Linie und Punkt, und so Fläche überhaupt, andererseits aber die aufgehobene Negation des Raums ist, somit Wiederherstellung der räumlichen Totalität, welche nunmehr das negative Moment an ihr hat, - umschließende Oberfläche, die einen einzelnen ganzen Raum absondert.

Daß die Linie nicht aus Punkten, die Fläche nicht aus Linien besteht, geht aus ihrem Begriffe hervor, da die Linie vielmehr der Punkt als außer sich seiend, nämlich sich auf den Raum beziehend und sich aufhebend, die Fläche ebenso die aufgehobene, außer sich seiende Linie ist. - Der Punkt ist hier als das Erste und Positive vorgestellt und von ihm ausgegangen worden. Allein ebenso ist umgekehrt, insofern der Raum in der Tat dagegen das Positive ist, die Fläche die erste Negation und die Linie die zweite, die aber, als die zweite, ihrer Wahrheit nach sich auf sich beziehende Negation, der Punkt ist; die Notwendigkeit des Übergangs ist dieselbe. An die Notwendigkeit dieses Übergangs wird nicht gedacht in dem äußerlichen Auffassen und Definieren des Punkts, der Linie usf.; doch vorgestellt, aber als etwas Zufälliges, wird jene erste Art des Übergehens in der Definitionsweise, daß, wenn der Punkt sich bewege, die Linie entstehe, usf. Die weiteren Figurationen des Raumes, welche die Geometrie betrachtet, sind fernere qualitative Begrenzungen einer Raumabstraktion, der Fläche, oder eines begrenzten ganzen Raums. Es kommen darin auch Momente der Notwendigkeit vor, daß z. B. das Dreieck die erste geradlinige Figur ist, daß alle anderen Figuren auf sie oder auf das Quadrat zurückgeführt werden müssen, wenn sie bestimmt werden sollen, und dergleichen. - Das Prinzip dieser Zeichnungen ist die Verstandesidentität, welche die Figurationen zur Regelmäßigkeit bestimmt und damit die Verhältnisse begründet, welche dadurch zu erkennen möglich wird. 9/45
Im Vorbeigehen kann bemerkt werden, daß es ein sonderbarer Einfall Kants war, zu behaupten, die Definition der geraden Linie, daß sie der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten sei, sei ein synthetischer Satz; denn mein Begriff vom Geraden enthalte nichts von Größe, sondern nur eine Qualität.52)  In diesem Sinne ist jede Definition ein synthetischer Satz; das Definitum, die gerade Linie, ist nur erst die Anschauung oder Vorstellung, und die Bestimmung, daß sie der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten sei, macht erst den Begriff aus (wie er nämlich in solchen Definitionen erscheint, s. § 229). Daß der Begriff nicht schon in der Anschauung vorhanden ist, ist der Unterschied von beiden, der die Forderung einer Definition herbeiführt. Daß aber jene Definition analytisch ist, erhellt leicht, indem die gerade Linie sich auf die Einfachheit der Richtung reduziert, die Einfachheit aber, in Beziehung auf Menge genommen, die Bestimmung der geringsten Menge, hier des kürzesten Weges, gibt.

Zusatz. Nur die gerade Linie ist die erste Bestimmung der Räumlichkeit, an sich sind die krummen Linien sogleich in zwei Dimensionen; beim Kreise haben wir die Linie in der zweiten Potenz. Als zweite Negation hat die Fläche zwei Dimensionen; denn zum Zweiten gehören ebensogut zwei als zur Zwei.
Die Wissenschaft der Geometrie hat zu finden, welche Bestimmungen folgen, wenn gewisse andere vorausgesetzt sind; die Hauptsache ist dann, daß die vorausgesetzten und abhängigen eine entwickelte Totalität ausmachen. Die Hauptsätze der Geometrie sind die, wo ein Ganzes gesetzt ist und dieses in seinen Bestimmtheiten ausgedrückt ist. In Ansehung des Dreiecks gibt es zwei solcher Hauptsätze, wodurch die Bestimmtheit des Dreiecks vollendet ist. α) Wenn wir je drei Stücke eines Dreiecks nehmen, worunter eine Seite sein muß (man hat da drei Fälle), so ist das Dreieck vollkommen bestimmt. Die Geometrie nimmt dann auch den Umweg von zwei Dreiecken, die unter diesen Umständen kongruent sein sollen; das ist dann die leichtere Vorstellung, die aber ein Überfluß ist. Das Wahrhafte ist dieses, daß wir zu dem Satze nur ein Dreieck brauchen, welches ein solches Verhältnis in ihm selbst sei, daß, wenn die ersten drei Teile desselben bestimmt 9/46 sind, so sind es auch die drei übrigen; das Dreieck ist bestimmt durch zwei Seiten und einen Winkel oder durch zwei Winkel und eine Seite usw. Die Bestimmtheit oder der Begriff sind die drei ersten Stücke; die drei anderen Stücke gehören zur äußeren Realität des Dreiecks und sind für den Begriff überflüssig. In solchem Setzen ist die Bestimmung noch ganz abstrakt und nur die Abhängigkeit überhaupt da; denn es fehlt noch das Verhältnis der bestimmten Bestimmtheit, wie groß die Stücke des Dreiecks seien. Das ist β) im Pythagoreischen Lehrsatz erreicht; er ist die vollkommene Bestimmtheit des Dreiecks, weil nur der rechte Winkel vollkommen bestimmt ist, indem sein Nebenwinkel ihm gleich ist. Dieser Satz ist daher vor allen anderen Sätzen ausgezeichnet als ein Bild der Idee; es ist ein Ganzes da, das sich in sich geteilt hat, wie jede Gestalt in der Philosophie als Begriff und Realität in sich geteilt ist. Dieselbe Größe haben wir einmal als das Quadrat der Hypotenuse, dann geteilt als die Quadrate der Katheten. Eine höhere Definition des Kreises als die Gleichheit der Radien ist, daß der Unterschied an ihm betrachtet werde; und so ist seine völlige Bestimmtheit erreicht. Das geschieht in der analytischen Behandlung, und es ist nichts anderes vorhanden, als was im Pythagoreischen Lehrsatze; die Katheten sind Sinus und Kosinus - oder Abszisse und Ordinate -, die Hypotenuse ist der Radius. Das Verhältnis dieser Drei ist die Bestimmtheit, aber nicht eine einfache wie in der ersten Definition, sondern ein Verhältnis Unterschiedener. Mit dem Pythagoreischen Lehrsatze schließt auch Euklid sein erstes Buch; nachher geht das Interesse daher auch darauf, Verschiedenes auf Gleiches zurückzuführen. So schließt Euklid das zweite Buch damit, das Rektangel auf das Quadrat zurückzuführen. Wie zu einer Hypotenuse eine unendliche Menge rechtwinkliger Dreiecke möglich ist, so zu einem Quadrate eine Menge Rektangel; der Ort für beides ist der Kreis. Dies ist die Weise, wie die Geometrie, als abstrakte Verstandeswissenschaft wissenschaftlich verfährt.

52) vgl. Kritik der reinen Vernunft, B 16