α. Das praktische Gefühl
§ 471

Der praktische Geist hat seine Selbstbestimmung in ihm zuerst auf unmittelbare Weise, damit formell, so daß er sich findet als in seiner innerlichen Natur bestimmte Einzelheit. Er ist so praktisches Gefühl. Darin hat er, da er an sich mit der Vernunft einfach identische Subjektivität ist, wohl den Inhalt der Vernunft, aber als unmittelbar einzelnen, hiermit auch als natürlichen, zufälligen und subjektiven Inhalt, der ebensowohl aus der Partikularität des Bedürfnisses, des Meinens usf. und aus der gegen das Allgemeine sich für sich setzenden Subjektivität sich bestimmt, als er an sich der Vernunft angemessen sein kann.

Wenn an das Gefühl von Recht und Moralität wie von Religion, das der Mensch in sich habe, an seine wohlwollenden Neigungen usf., an sein Herz überhaupt, d. i. an das Subjekt, insofern in ihm alle die verschiedenen praktischen Gefühle vereinigt sind, appelliert wird, so hat dies 1. den richtigen Sinn, daß diese Bestimmungen seine eigenen 10/290 immanenten sind, 2. und dann, insofern das Gefühl dem Verstande entgegengesetzt wird, daß es gegen dessen einseitige Abstraktionen die Totalität sein kann. Aber ebenso kann das Gefühl einseitig, unwesentlich, schlecht sein. Das Vernünftige, das in der Gestalt der Vernünftigkeit als Gedachtes ist, ist derselbe Inhalt, den das gute praktische Gefühl hat, aber in seiner Allgemeinheit und Notwendigkeit, in seiner Objektivität und Wahrheit.
Deswegen ist es einerseits töricht zu meinen, als ob im Übergange vom Gefühl zum Recht und der Pflicht an Inhalt und Vortrefflichkeit verloren werde; dieser Übergang bringt erst das Gefühl zu seiner Wahrheit. Ebenso töricht ist es, die Intelligenz dem Gefühle, Herzen und Willen für überflüssig, ja schädlich zu halten; die Wahrheit und, was dasselbe ist, die wirkliche Vernünftigkeit des Herzens und Willens kann allein in der Allgemeinheit der Intelligenz, nicht in der Einzelheit des Gefühles als solchen stattfinden. Wenn die Gefühle wahrhafter Art sind, sind sie es durch ihre Bestimmtheit, d. i. ihren Inhalt, und dieser ist wahrhaft nur, insofern er in sich allgemein ist, d. i. den denkenden Geist zu seiner Quelle hat. Die Schwierigkeit besteht für den Verstand darin, sich von der Trennung, die er sich einmal zwischen den Seelenvermögen, dem Gefühle, dem denkenden Geiste willkürlich gemacht hat, loszumachen und zu der Vorstellung zu kommen, daß im Menschen nur eine Vernunft im Gefühl, Wollen und Denken ist. Damit zusammenhängend wird eine Schwierigkeit darin gefunden, daß die Ideen, die allein dem denkenden Geiste angehören, Gott, Recht, Sittlichkeit, auch gefühlt werden können. Das Gefühl ist aber nichts anderes als die Form der unmittelbaren eigentümlichen Einzelheit des Subjekts, in die jener Inhalt, wie jeder andere objektive Inhalt, dem das Bewußtsein auch Gegenständlichkeit zuschreibt, gesetzt werden kann.
Andererseits ist es verdächtig und sehr wohl mehr als dies, am Gefühle und Herzen gegen die gedachte Vernünftigkeit, 10/291 Recht, Pflicht, Gesetz, festzuhalten, weil das, was mehr in jenen als in dieser ist, nur die besondere Subjektivität, das Eitle und die Willkür, ist. - Aus demselben Grunde ist es ungeschickt, sich bei der wissenschaftlichen Betrachtung der Gefühle auf mehr als auf ihre Form einzulassen und ihren Inhalt zu betrachten, da dieser als gedacht vielmehr die Selbstbestimmungen des Geistes in ihrer Allgemeinheit und Notwendigkeit, die Rechte und Pflichten, ausmacht. Für die eigentümliche Betrachtung der praktischen Gefühle wie der Neigungen blieben nur die selbstsüchtigen, schlechten und bösen; denn nur sie gehören der sich gegen das Allgemeine festhaltenden Einzelheit; ihr Inhalt ist das Gegenteil von dem der Rechte und Pflichten, eben damit erhalten sie aber nur im Gegensatze gegen diese ihre nähere Bestimmtheit.

§ 472

Das praktische Gefühl enthält das Sollen, seine Selbstbestimmung als an sich seiend, bezogen auf eine seiende Einzelheit, die nur in der Angemessenheit zu jener als gültig sei. Da beiden in dieser Unmittelbarkeit noch objektive Bestimmung fehlt, so ist diese Beziehung des Bedürfnisses auf das Dasein das ganz subjektive und oberflächliche Gefühl des Angenehmen oder Unangenehmen.

Vergnügen, Freude, Schmerz usf., Scham, Reue, Zufriedenheit usw. sind teils nur Modifikationen des formellen praktischen Gefühls überhaupt, teils aber durch ihren Inhalt, der die Bestimmtheit des Sollens ausmacht, verschieden.
Die berühmte Frage nach dem Ursprunge des Übels in der Welt tritt, wenigstens insofern unter dem Übel zunächst nur das Unangenehme und der Schmerz verstanden wird, auf diesem Standpunkte des formellen Praktischen ein. Das Übel ist nichts anderes als die Unangemessenheit des Seins zu dem Sollen. Dieses Sollen hat viele Bedeutungen und, da die zufälligen Zwecke gleichfalls die Form des 10/292 Sollens haben, unendlich viele. In Ansehung ihrer ist das Übel nur das Recht, das an der Eitelkeit und Nichtigkeit ihrer Einbildung ausgeübt wird. Sie selbst sind schon das Übel. - Die Endlichkeit des Lebens und des Geistes fällt in ihr Urteil, in welchem sie das von ihnen abgesonderte Andere zugleich als ihr Negatives in ihnen haben, so als der Widerspruch sind, der das Übel heißt. Im Toten ist kein Übel noch Schmerz, weil der Begriff in der unorganischen Natur seinem Dasein nicht gegenübertritt und nicht in dem Unterschiede zugleich dessen Subjekt bleibt. Im Leben schon und noch mehr im Geiste ist diese immanente Unterscheidung vorhanden und tritt hiermit ein Sollen ein; und diese Negativität, Subjektivität, Ich, die Freiheit sind die Prinzipien des Übels und des Schmerzes. - Jakob Böhme hat die Ichheit als die Pein und Qual und als die Quelle der Natur und des Geistes gefaßt.

Zusatz. Obgleich im praktischen Gefühl der Wille die Form der einfachen Identität mit sich selber hat, so ist in dieser Identität doch schon die Differenz vorhanden; denn das praktische Gefühl weiß sich zwar einerseits als objektiv gültiges Selbstbestimmen, als ein An-und-für-sich-Bestimmtes, zugleich aber andererseits als unmittelbar oder von außen bestimmt, als der ihm fremden Bestimmtheit der Affektionen unterworfen. Der fühlende Wille ist daher das Vergleichen seines von außen kommenden, unmittelbaren Bestimmtseins mit seinem durch seine eigene Natur gesetzten Bestimmtsein. Da das letztere die Bedeutung dessen hat, was sein soll, so macht der Wille an die Affektion die Forderung, mit jenem übereinzustimmen. Diese Übereinstimmung ist das Angenehme, die Nichtübereinstimmung das Unangenehme.
Weil aber jene innere Bestimmtheit, auf welche die Affektion bezogen wird, eine selbst noch unmittelbare, meiner natürlichen Einzelheit angehörige, noch subjektive, nur gefühlte ist, so kann das durch jene Beziehung zustandekommende Urteil nur ein ganz oberflächliches und zufälliges sein. Bei wichtigen Dingen erscheint daher der Umstand, daß mir etwas angenehm oder unangenehm ist, als höchst gleichgültig.
Das praktische Gefühl erhält jedoch noch weitere Bestimmungen als die eben besprochenen oberflächlichen.
Es gibt nämlich zweitens Gefühle, welche, da ihr Inhalt von der Anschauung oder von der Vorstellung herkommt, das Gefühl des 10/293 Angenehmen oder Unangenehmen an Bestimmtheit übertreffen. Zu dieser Klasse von Gefühlen gehört zum Beispiel das Vergnügen, die Freude, die Hoffnung, die Furcht, die Angst, der Schmerz usw. - Die Freude besteht in dem Gefühl des einzelnen Zustimmens meines An-und-für-sich-Bestimmtseins zu einer einzelnen Begebenheit, einer Sache oder Person. Die Zufriedenheit dagegen ist mehr eine dauernde, ruhige Zustimmung ohne Intensität. In der Heiterkeit zeigt sich ein lebhafteres Zustimmen. Die Furcht ist das Gefühl meines Selbstes und zugleich eines mein Selbstgefühl zu zerstören drohenden Übels. Im Schrecken empfinde ich die plötzliche Nichtübereinstimmung eines Äußerlichen mit meinem positiven Selbstgefühl.
Alle diese Gefühle haben keinen ihnen immanenten, zu ihrer eigentümlichen Natur gehörenden Inhalt; derselbe kommt in sie von außen.
Endlich entsteht eine dritte Art von Gefühlen dadurch, daß auch der aus dem Denken stammende, substantielle Inhalt des Rechtlichen, Moralischen, Sittlichen und Religiösen in den fühlenden Willen aufgenommen wird. Indem dies geschieht, bekommen wir mit Gefühlen zu tun, die sich durch den ihnen eigentümlichen Inhalt voneinander unterscheiden und durch diesen ihre Berechtigung erhalten. Zu dieser Klasse gehört auch die Scham und die Reue; denn beide haben in der Regel eine sittliche Grundlage. Die Reue ist das Gefühl der Nichtübereinstimmung meines Tuns mit meiner Pflicht oder auch nur mit meinem Vorteil, in jedem Falle also mit etwas An-und-für-sich-Bestimmtem.
Wenn wir aber gesagt haben, daß die zuletzt besprochenen Gefühle einen ihnen eigentümlichen Inhalt haben, so darf dies nicht so verstanden werden, als ob der rechtliche, sittliche und religiöse Inhalt notwendig im Gefühle wäre. Daß jener Inhalt mit dem Gefühle nicht unzertrennlich verwachsen ist, das sieht man empirischerweise daraus, daß selbst über eine gute Tat Reue empfunden werden kann. Es ist auch durchaus nicht absolut notwendig, daß ich bei der Beziehung meiner Handlung auf die Pflicht in die Unruhe und Hitze des Gefühls gerate; ich kann vielmehr jene Beziehung auch im vorstellenden Bewußtsein abmachen und somit bei der ruhigen Betrachtung die Sache bewenden lassen.
Ebensowenig braucht bei der oben besprochenen zweiten Art von Gefühlen der Inhalt in das Gefühl einzudringen. Ein besonnener Mensch, ein großer Charakter, kann etwas seinem Willen gemäß finden, ohne in das Gefühl der Freude auszubrechen, und umgekehrt ein Unglück erleiden, ohne dem Gefühl des Schmerzes sich hinzugeben. Wer solchen Gefühlen anheimfällt, der ist mehr oder weniger in der Eitelkeit befangen, eine besondere Wichtigkeit 10/294 darauf zu legen, daß gerade er, dieses besondere Ich, entweder ein Glück oder ein Unglück erfährt.