Anhang
Konzept der Rede beim Antritt des philosophischen Lehramtes an der Universität Berlin (Einleitung zur Enzyklopädie-Vorlesung) 22. Okt. 1818

Meine Herren!

Indem ich heute zum ersten Male auf hiesiger Universität in dem Amte eines Lehrers der Philosophie auftrete, zu dem mich die Gnade Seiner Majestät des Königs berufen hat, erlauben Sie mir, ein Vorwort darüber vorauszuschicken, daß ich es nämlich für besonders wünschenswert und erfreulich hielt, sowohl gerade in diesem Zeitpunkte als auf hiesigem Standpunkte in ausgebreitetere akademische Wirksamkeit zu treten.

Was den Zeitpunkt betrifft, so scheinen diejenigen Umstände eingetreten zu sein, unter denen sich die Philosophie wieder Aufmerksamkeit und Liebe versprechen darf - wo diese beinahe verstummte Wissenschaft ihre Stimme wieder erheben mag. Denn vor kurzem war es einesteils die Not der Zeit, welche den kleinen Interessen des täglichen Lebens eine so große Wirksamkeit gegeben, andererseits waren es die hohen Interessen der Wirklichkeit, das Interesse und die Kämpfe, um zunächst das politische Ganze des Volkslebens und des Staats wiederherzustellen und zu retten, welche alle Vermögen des Geistes, die Kräfte aller Stände, sowie die äußerlichen Mittel so sehr in Anspruch genommen, daß das innere Leben des Geistes nicht Ruhe gewinnen konnte; der Weltgeist, in der Wirklichkeit so sehr beschäftigt, nach außen gerissen, war abgehalten, sich nach innen und auf sich selbst zu kehren und in seiner eigentümlichen Heimat sich zu ergehen und zu genießen. Nun, nachdem dieser Strom der 10/399 Wirklichkeit gebrochen und die deutsche Nation überhaupt ihre Nationalität, den Grund alles lebendigen Lebens, gerettet hat, so ist dann die Zeit eingetreten, daß in dem Staate neben dem Regiment der wirklichen Welt auch das freie Reich des Gedankens selbständig emporblühe. Und überhaupt hat sich die Macht des Geistes so weit in der Zeit geltend gemacht, daß es nur die Ideen sind, und was Ideen gemäß ist, was sich jetzt erhalten kann, daß, was gelten soll, vor der Einsicht und dem Gedanken sich rechtfertigen muß. Und es ist insbesondere dieser Staat, der mich nun in sich aufgenommen hat, welcher durch das geistige Übergewicht sich zu seinem Gewicht in der Wirklichkeit und im Politischen emporgehoben, sich an Macht und Selbständigkeit solchen Staaten gleichgestellt hat, welche ihm an äußeren Mitteln überlegen gewesen wären. Hier ist die Bildung und die Blüte der Wissenschaften eines der wesentlichsten Momente selbst im Staatsleben; auf hiesiger Universität, der Universität des Mittelpunktes, muß auch der Mittelpunkt aller Geistesbildung und aller Wissenschaft und Wahrheit, die Philosophie ihre Stelle und vorzügliche Pflege finden.

Nicht nur ist es aber das geistige Leben überhaupt, welches ein Grundmoment in der Existenz dieses Staates ausmacht; sondern näher hat jener große Kampf des Volkes in Verein mit seinem Fürsten um Selbständigkeit, um Vernichtung fremder gemütloser Tyrannei und um Freiheit im Gemüte seinen höheren Anfang genommen: es ist die sittliche Macht des Geistes, welche sich in ihrer Energie gefühlt, ihr Panier aufgesteckt und dies ihr Gefühl als Gewalt und Macht der Wirklichkeit geltend gemacht hat. Wir müssen es für unschätzbar achten, daß unsere Generation in diesem Gefühle lebt, gehandelt und gewirkt hat, einem Gefühle, worin sich alles Rechtliche, Moralische und Religiöse konzentrierte. In solchem tiefen und allumfassenden Wirken erhebt sich der Geist in sich zu seiner Würde, und die Flachheit des Lebens und die Schalheit der Interessen geht zugrunde, und [die] Oberflächlichkeit der Einsicht und der Meinungen steht in 10/400 ihrer Blöße da und verfliegt. Dieser tiefere Ernst, der in das Gemüt überhaupt gekommen ist, ist denn auch der wahrhafte Boden der Philosophie. Was der Philosophie entgegensteht, ist einerseits das Versenktsein des Geistes in die Interessen der Not und des Tages, andererseits aber die Eitelkeit der Meinungen; das Gemüt, von ihr eingenommen, läßt der Vernunft, als welche nicht das Eigene sucht, keinen Raum in sich. Diese Eitelkeit muß sich in ihrem Nichts verflüchtigen, wenn es dem Menschen zur Notwendigkeit geworden, sich um substantiellen Gehalt zu bemühen, wenn es so weit gediehen, daß nur ein solcher sich geltend machen kann. In solchem substantiellen Gehalt aber haben wir die Zeit gesehen, haben wieder den Kern sich bilden sehen, dessen weitere Entwicklung nach allen Seiten, der politischen, sittlichen, religiösen, wissenschaftlichen Seite unserer Zeit anvertraut ist.

Unser Beruf und Geschäft ist die Pflegung der philosophischen Entwicklung, der substantiellen Grundlage, die sich nun verjüngt und bekräftigt hat. Ihre Verjüngung, die ihre nächste Wirkung und Äußerung in der politischen Wirklichkeit zeigte, hat ihre weitere Erscheinung in dem größeren sittlichen und religiösen Ernste, in der Forderung von Gediegenheit und Gründlichkeit überhaupt, welche an alle Lebensverhältnisse ergangen ist; der gediegenste Ernst ist an und für sich selbst der Ernst der Wahrheit, zu erkennen. Dies Bedürfnis, wodurch sich die geistige Natur von der bloß empfindenden und genießenden unterscheidet, ist eben deswegen das Tiefste des Geistes; es ist an sich allgemeines Bedürfnis, der Ernst der Zeiten hat es teils tiefer aufgeregt, teils ist es ein näheres Eigentum des deutschen Geistes. Was die Auszeichnung der Deutschen in der Kultur der Philosophie betrifft, so zeigt nämlich der Zustand dieses Studiums und die Bedeutung dieses Namens bei den anderen Nationen, daß der Name sich noch bei ihnen erhalten, aber seinen 10/401 Sinn verändert hat, und daß die Sache verkommen und verschwunden ist, und zwar so, daß kaum eine Erinnerung und Ahnung von ihr zurückgeblieben ist. Diese Wissenschaft hat sich zu den Deutschen geflüchtet und lebt allein noch in ihnen fort; uns ist die Bewahrung dieses heiligen Lichtes anvertraut, und es ist unser Beruf, es zu pflegen und zu nähren und dafür zu sorgen, daß das Höchste, was der Mensch besitzen kann, das Selbstbewußtsein seines Wesens, nicht erlösche und untergehe. Aber selbst in Deutschland ist die Flachheit der früheren Zeit vor seiner Wiedergeburt so weit gekommen, daß sie gefunden und bewiesen zu haben meinte und versicherte, es gebe keine Erkenntnis der Wahrheit, Gott, das Wesen der Welt und des Geistes sei ein Unbegreifliches, Unfaßbares; der Geist müsse bei der Religion stehenbleiben und die Religion beim Glauben, Gefühl und Ahnen, ohne vernünftiges Wissen, das Erkennen betreffe nicht die Natur des Absoluten, Gottes, und dessen, was in Natur und Geist wahr und absolut ist, sondern vielmehr allein teils nur das Negative, daß nichts Wahres erkannt, sondern daß allein Unwahres, Zeitliches und Vergängliches gleichsam den Vorzug genieße, erkannt zu werden, - teils, was eigentlich darunter gehört, das Äußerliche, nämlich das Historische, die zufälligen Umstände, unter denen das angebliche, vermeintliche Erkennen erschienen ist, und ebensolche Erkenntnis sei nur als etwas Historisches zu nehmen und nach jenen äußerlichen Seiten kritisch und gelehrt zu untersuchen; aus seinem Inhalte könne kein Ernst gemacht werden. Sie sind so weit gekommen als Pilatus, der Römische Prokonsul; wie er Christus das Wort Wahrheit nennen hörte, erwiderte er dies mit der Frage: Was ist Wahrheit? - in dem Sinne als einer, der mit solchem Worte fertig sei und wisse, daß es keine Erkenntnis der Wahrheit gebe. So ist das, was von jeher für das Schmählichste, Unwürdigste gegolten hat, der Erkenntnis der Wahrheit [zu] entsagen, von unseren 10/402 Zeiten zum höchsten Triumphe des Geistes erhoben worden. Die Verzweiflung an der Vernunft war, wie es bis zu ihr gekommen war, noch mit Schmerz und Wehmut verknüpft; aber bald hat der religiöse und sittliche Leichtsinn, und dann die Plattheit und Seichtigkeit des Wissens, welche sich Aufklärung nannte, frank und frei seine Ohnmacht bekannt und seinen Hochmut in das gründliche Vergessen höherer Interessen gelegt; - und zuletzt hat die sogenannte kritische Philosophie diesem Nichtwissen des Ewigen und Göttlichen ein gutes Gewissen gemacht, indem sie nämlich versichert hat, bewiesen zu haben, daß vom Ewigen und Göttlichen, vom Wahren nichts gewußt werden [könne]; diese vermeinte Erkenntnis hat sich sogar den Namen Philosophie angemaßt, und nichts ist der Seichtigkeit des Wissens sowohl als des Charakters willkommener gewesen, nichts so willkommen von ihr ergriffen worden als diese Lehre, wodurch eben diese Unwissenheit, diese Seichtigkeit und Schalheit für das Vortreffliche, für das Ziel und Resultat alles intellektuellen Strebens ausgegeben worden ist. Das Wahre nicht zu wissen und nur Erscheinendes, Zeitliches und Zufälliges, nur das Eitle zu erkennen, diese Eitelkeit ist es, welche sich in der Philosophie breitgemacht hat und in unseren Zeiten noch breitmacht und das große Wort führt. Man kann wohl sagen, daß, seitdem sich die Philosophie in Deutschland hervorzutun angefangen hat, es nie so schlecht um diese Wissenschaft ausgesehen hat, daß eine solche Ansicht, ein solches Verzichttun auf vernünftiges Erkennen solche Anmaßung und solche Ausbreitung erlangt hätte, - eine Ansicht, welche noch von der vorhergehenden Periode sich herübergeschleppt hat und welche mit dem gediegenen Gefühle, dem neuen substantiellen Geiste so sehr in Widerspruch steht. Diese Morgenröte eines gediegeneren Geistes begrüße ich, rufe ich an, mit ihm nur habe ich es zu tun, indem ich behaupte, daß die Philosophie Gehalt haben müsse, und indem ich diesen 10/403 Gehalt vor Ihnen entwickeln werde; überhaupt aber rufe ich den Geist der Jugend dabei an, denn sie ist die schöne Zeit des Lebens, das noch nicht in dem Systeme der beschränkten Zwecke der Not befangen und für sich der Freiheit einer interesselosen wissenschaftlichen Beschäftigung fähig ist; ebenso ist sie noch unbefangen von dem negativen Geiste der Eitelkeit, von dem Gehaltlosen eines bloß kritischen Abmühens. Ein noch gesundes Herz hat noch den Mut, Wahrheit zu verlangen, und das Reich der Wahrheit ist es, in welchem die Philosophie zu Hause ist, welches sie erbaut und dessen wir durch ihr Studium teilhaftig werden. Was im Leben wahr und groß und göttlich ist, ist es durch die Idee; das Ziel der Philosophie ist, sie in ihrer wahrhaften Gestalt und Allgemeinheit zu erfassen. Die Natur ist darunter gebunden, die Vernunft nur mit Notwendigkeit zu vollbringen; aber das Reich des Geistes ist das Reich der Freiheit, - alles, was das menschliche Leben zusammenhält, was Wert hat und gilt, ist geistiger Natur; und dies Reich des Geistes existiert allein durch das Bewußtsein von Wahrheit und Recht, durch das Erfassen der Idee.

Ich darf wünschen und hoffen, daß es mir gelingen werde, auf dem Wege, den wir betreten, Ihr Vertrauen zu gewinnen und zu verdienen; zunächst aber darf ich nichts in Anspruch nehmen als dies, daß Sie Vertrauen zu der Wissenschaft, Glauben an die Vernunft, Vertrauen und Glauben zu sich selbst mitbringen. Der Mut der Wahrheit, Glauben an die Macht des Geistes ist die erste Bedingung des philosophischen Studiums; der Mensch soll sich selbst ehren und sich des Höchsten würdig achten. Von der Größe und Macht des Geistes kann er nicht groß genug denken; das verschlossene Wesen des Universums hat keine Kraft in sich, welche dem Mute des Erkennens Widerstand leisten könnte; es muß sich vor ihm auftun und seinen Reichtum und seine Tiefen ihm vor Augen legen und zum Genusse bringen.354)  10/404

Nach diesem Vorworte trete ich dem Gegenstande dieser Vorlesungen näher, der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften.

α) Ich verstehe darunter die Philosophie in ihrer Begründung und in ihrem ganzen systematischen Umfang - es wird sich innerhalb ihrer selbst näher zeigen, daß ihre Begründung nur in ihrem systematischen Umfange ruht. - Die gewöhnliche Vorstellung des Verstandes ist, daß die Begründung u. dgl. vorangehen müsse und außer und nach diesem Grunde die Wissenschaft selbst kommen müsse. Die Philosophie ist aber wie das Universum rund in sich, es ist kein Erstes und kein Letztes, sondern alles ist getragen und gehalten, - gegenseitig und in Einem. - Die Absicht dieser Vorlesung ist, Ihnen ein vernünftiges Bild des Universums [zu geben]. Ich habe es eben deswegen vorgezogen, mit dem Ganzen anzufangen, weil die Teile nur aus dem Ganzen zu begreifen sind. Späterhin werde ich über die einzelnen Teile besondere Vorlesungen [halten], wie ich denn schon in diesem Semester mit der Wissenschaft des Naturrechts anfange.

β)355)  Dieses Bild des Universums als philosophisches ist nur ein Gedachtes, wie es der Gedanke frei und selbständig aus sich erzeugt. - Die Philosophie erkennt das, was ist, und insofern ist ihr Inhalt nicht jenseits, nicht von dem verschieden, was sich auch dem Sinne, dem äußeren und inneren Gefühl darstellt356) , was der Verstand erfaßt und sich bestimmt. - Aber wie es wahrhaft ist, stellt es sich nur der denkenden Vernunft dar; was ist, ist an sich vernünftig, aber darum noch nicht für den Menschen, für das Bewußtsein; erst durch die Tätigkeit und Bewegung des Denkens wird 10/405 das Vernünftige, das, was wahrhaft ist, für ihn; - nicht ein passives Auffassen - denn wie es äußerlich ist, ist es sinnlich -, aber ebensowenig ein willkürliches Hervorbringen, Hin- und Her-Räsonieren, sondern vernünftiges Denken - ein Denken, in das sich nichts - das Sinnliche, Gemeinte, Subjektive - einmischt, sondern das frei und nur bei sich selbst sich entwickelt. - Die Vernunft, welche das ist, was ist, und die Vernunft, welche das Wesen des Geistes ausmacht, ist eine und dieselbe. - Was der Geist aus sich Vernünftiges produziert, das ist - ein Objektives, und dies Objektive ist nur vernünftig für ihn, insofern es denkt. - Wie Mensch die Welt anblickt, so blickt sie ihn [an]; blickt er sie sinnlich, räsonierend an, so gestaltet sie sich für ihn nur sinnlich und in den un[endlich] mannigfaltigen und zerstreuten Zusammenhängen; nur insofern er sie vernünftig anblickt, gestaltet sie für ihn sich vernünftig.

γ) Damit ist im allgemeinen der Standpunkt bezeichnet, auf den sich das Individuum stellt, indem es philosophiert. - Man verlangt oft, man solle in dem, der zur Philosophie hinzutritt, erst das Bedürfnis der Philosophie erwecken und ihn auf denjenigen Standpunkt bringen, auf welchem eben die Philosophie Bedürfnis ist. - Erstens ist dies Bedürfnis bei Ihnen, meine Herren, die einen Teil Ihrer Beschäftigung dem Studium der Philosophie widmen wollen, schon vorauszusetzen; dies Bedürfnis mag nun aus einem tieferen inneren Grund kommen oder eine äußerliche Veranlassung haben: die Autorität anderer, der Eltern, Lehrer, die Ihnen dieses aufgegeben haben; aber im allgemeinen ist das, was dem eigentlichen Bedürfnis der Philosophie zugrunde liegt, bei jedem (denkenden) Menschen vorauszusetzen; der Mensch fängt nämlich überhaupt von sinnlicher Erkenntnis, sinnlichen Begierden und Trieben an; eine äußerliche Welt legt sich offen vor ihm dar, seine Bedürfnisse und seine Neugierde treiben ihn zu derselben, - die Regungen seiner inneren Empfindungen, seines Herzens, Gefühl von Recht und Unrecht, Gefühl seiner Selbsterhaltung, seiner Ehre usw. 10/406 treiben ihn. Dieser Standpunkt [jedoch] befriedigt ihn nicht; das Vernünftige, das instinktmäßig in ihm ist, und die Reflexion, die sich darauf richtet, führt ihn zum Allgemeinen und zum Ursprünglichen dieser erscheinenden Welt, - zum Forschen nach Gründen und Ursachen, nach den Gesetzen, nach dem Bleibenden in diesem Wandelbaren und Unsteten; sie führt ihn ferner überhaupt vom Sinnlichen ab, entrückt ihn demselben und stellt ihm den Gedanken eines Ewigen gegen das Zeitliche, eines Unendlichen und Unbeschränkten gegen das Endliche und Beschränkte dar oder macht ihn empfänglich, solche Gedanken von einer allgemeinen Weltordnung, von einem ersten Grund und Wesen aller Dinge aufzunehmen und sie in sich zu nähren. - Hier ist denn schon ein Beginn von Philosophie - in der Idee selbständiger allgemeiner Gesetze, eines Bestehenden, eines absoluten Wesens. Aber dies ist zunächst nur der Standpunkt der Reflexion des Verstandes - oder etwa des Glaubens und Gefühls. Noch steht das Unendliche dem Endlichen gegenüber, das Ewige macht noch den Gegensatz zum Zeitlichen; die Welt ist in zwei getrennte Teile zerrissen, - ein Reich der Gegenwart und ein Reich des Jenseits; an jenes bindet mich die Wirklichkeit - mein Bewußtsein -, zu diesem reißt mich der Geist fort; in keinem kann ich ganz sein, und in keinem kann ich bleibend verweilen; keines ist für mich befriedigend, jedes hat absolute Ansprüche an mich, und diese Ansprüche sind im Widerspruch, und den Widerspruch kann ich nicht lösen, indem ich eines aufgebe, sondern beide behaupten ihr Recht. Dieser Widerspruch ist es, der das nähere Bedürfnis der Philosophie enthält, dessen Auflösung sie zum Ziele hat; der in sich entzweite Geist sucht in ihr, d. h. in sich selbst, seine Versöhnung.

Der Widerspruch kann näher in dreifache Form gefaßt werden:

α) überhaupt [als der] der Objektivität gegen die Freiheit - die äußere Welt gegen mich; ich bin abhängig von Natur - Notwendigkeit - und fühle mich frei; eins [ist] 10/407 so stark als das andere. Zwecke meiner Vernunft sind das Gute, das Rechte, das Wahre (die äußere Welt ist ihnen angemessen oder auch nicht) - [wir] fordern die Realisierung derselben schlechthin in der Welt, und diese [ist] selbständig, anderen Gesetzen zu folgen -

β) [der Widerspruch] der objektiven äußeren Welt - in sich selbst ein buntes Reich von Zufälligem und Notwendigkeit; bald scheint dies - das Leben - Zweck zu sein, bald ebenso vergänglich. Das Allgemeine, Gesetze [sind] in ihr selbst ein Mannigfaltiges - eine Sammlung, in welchen noch keine Harmonie ist, diejenige Zusammenstimmung und Einheit, welche zugleich von der Vernunft als Grund gefordert wird - und diese Einheit - [kann nur] durch Abstraktion bei ihr [ent]stehen - Wesen - so ist sie leer - befaßt nicht jene Mannigfaltigkeit in sich -

γ) Aber Ich, die Freiheit in sich selbst - das Mannigfaltigste, Widersprechendste, - Triebe, welche, von der Natur in mich gepflanzt, [auf] meine Interessen und Genuß gehen und deren Befriedigung mich zugleich zum Untergang führt, - und Vernunft, welche deren Aufopferung, Abbruchtun fordert und welche doch die Bedingungen meines Selbstbewußtseins sind.

Diese Widersprüche machen das Rätsel aus, als welches die äußere Natur und mein Inneres mir erscheint. Sie sind es, deren Auflösung die Philosophie zu ihrem Ziele hat; sie sind es, die sich mehr oder weniger in jedem Menschen, in dem das Denken, Selbstbewußtsein erwacht ist, hervortun, die ihn treiben, Wahrheit in diesem allgemeinen Gewirre zu suchen.

Jeder hat dieses Bedürfnis, für jeden ist die Auflösung in der Religion vorhanden, im Glauben, in der Lehre - Gefühl, Verstand - dem Unendlichen näher gebracht - Lehren ganz in abstrakter Allgemeinheit gehalten - Glauben an die Harmonie - Formen der sinnlichen Vorstellung -

[Religion hat] denselben Zweck, denselben Inhalt [wie die Philosophie, aber sie drückt] Wahrheit nicht in Gestalt der 10/408 Wahrheit, sondern [des] Gefühl[s], [des] Gegebenen, Geglaubten, Geahnten [aus]. - Unmittelbares Vorstellen - bei der Religion nicht stehenbleiben; - nicht begriffen - es ist so; - unmittelbar angenommen, nicht als eine ewige Wahrheit, sondern in der Weise zeitlicher Geschichten und historischer Wahrheiten. Das Fremdartige, bloß allgemein Versicherte abtun!

a) Religion ist die Weise, in welcher den Menschen überhaupt das Bewußtsein ihres Wesens aufgegangen ist; das Wesen der Natur und ihres Geistes ist in ihr ihnen gegenständlich. Die Wahrheit ist ihnen darin geoffenbart; in ihr geht der Mensch über seine bloße Subjektivität, Einzelheit Bedürftigkeit, Schranke hinaus, und der Geist in ihm erfaßt sich selbst - der wesentliche Geist wird dem wesentlichen Geiste darin gegenwärtig. In ihr tut der Mensch sich von seinen beschränkten, zeitlichen Zwecken, der Not und der Lust der Gegenwart ab, und das Wesen ist frei bei sich - der innere Gott identisch mit dem äußeren. Die Religion soll deswegen nichts Subjektives sein, nicht dem Subjekt als solchem angehörig, sondern seiner Besonderheit abgetan als reines denkendes, als ein reines allgemeines Wissen.

Wenn man in neueren Zeiten die Religion zu einem bloß Meinem, subjektiven Gefühle gemacht hat, zu einer Angelegenheit, die nur mich betreffe, in mir vorgehe, was jeder mit sich nach seiner besonderen Weise, seiner besonderen Anschauung, seiner Weise seines Seins abzumachen habe, so hat man darin das Moment der Wahrheit übersehen. Religion ist meine Angelegenheit, ich bin persönlich als dieser darin, aber ich soll darin sein, - eben nach meinem Wesen, nicht meine Partikularität darin geltend machen, sondern vielmehr mich über sie stellen, über sie hinaus sein, - abstrahieren, - ich soll als objektiv mich darin verhalten, es ist gerade mein objektives Sein. Wenn ich esse, trinke, überhaupt auf Zwecke meiner Besonderheit gerichtet bin, dann bin, existiere, lebe, fühle [ich], bin meiner bewußt nur als ein Besonderes. Das religiöse Gefühl und Leben ist 10/409 eben das höhere Leben. Im Kultus wird das Göttliche zum Selbstbewußtsein, α) ich Besonderer erhebe mich zum Unendlichen, β) umgekehrt das nur Innere, Un[endliche], das nicht Selbstbewußte, wird als ein Selbstbewußtsein - es ist der selbstbewußte Gott - wovon nur das Formale, das Selbstbewußtsein, mir als Subjekt zukommt, aber worin ich meine Besonderheit vernichte und eben darum und darin allein die Form ebenso zum Inhalt erhebe - und das Göttliche als Selbstbewußtsein wird.

Diese Objektivität, die ebensosehr Subjektivität [ist], macht allein die Religion aus. Aber dies göttliche Selbstbewußtsein hat als Religion noch Gestalt, die ihrem Inhalte, der Wahrheit, nicht angemessen ist. In der Religion bleibt das Gefühl eine Hauptform; aber weiter: die Möglichkeit, die Art und Weise, wie das Wesen bewußt wird, ist die Vorstellung; das Verhältnis des Erkennens ist Glauben; - auch nur untermischt mit Gedanken. Vorstellung - So ist Gott - das ewige göttliche Sein und Leben wird vorgestellt - in Formen der Äußerlichkeit gefaßt, für die Phantasie, Gott hat die Welt erschaffen; daß die Vernunft dies ist, - und als ein Handeln nach außen, als ein Geschehen, nach der Weise und in Verhältnissen der Endlichkeiten. - Sich selbst anzuschauen, sich gegenüberzutreten, für sich selbst zu werden: Erzeugung eines Sohnes. Die ewige Einheit dieses göttlichen Gegenstands wird zwar als Geist ausgesprochen, aber als ein Drittes, das ausgehe von Vater und Sohn, nicht als das, worin allein jene beiden ersten Momente ihr reelles Sein haben. Weitere äußere [Vorstellungen]: Essen vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. So Mensch, Selbstbewußtsein zur Erkenntnis des Guten und Bösen als eine zufällige Geschichte, Verführung, etwas Unrechtes. Ebenso Versöhnung des Geistes mit sich selbst, Identität der göttlichen und menschlichen Natur als ein nur äußeres Geschehen, zeitliches Geschehen - Anschauung in einem anderen, als an einem besonderen Individuum, nicht als an und für sich selbst in der Vernunft. 10/410

In allem dieser Weise der Vorstellung ist eine Fremdartigkeit, Äußerlichkeit, in Zeit und Raum - andere Zeit, anderer Raum, andere Wirklichkeiten. Der Kern darin ist das Meine, denn es ist vernünftig. Aber diese Gestalt ist mir eine andere, deswegen nicht durchdrungen, nicht begriffen. Deswegen kann der Geist nicht bei der Gestalt der Religion stehenbleiben - ohnehin nicht als rein subjektive Empfindung, denn dies ist die tierische Form des vernünftigen Selbstbewußtseins -, aber auch nicht bei jener Form der Vorstellung. Form wegnehmen - Vernunft gedacht - dann: Ich schaue mich darin, weiß mich darin - begreife das Notwendige, als eigene Bestimmung der Vernunft.

Philosophie [hat] also denselben Zweck und Gehalt mit der Religion, nur nicht [als] Vorstellung, sondern Denken357) . Die Gestalt der Religion [ist] deswegen unbefriedigend für das höher gebildete Bewußtsein, - [es] muß erkennen wollen, die Form der Religion aufheben, aber allein darum, um ihren Inhalt zu rechtfertigen. Dies dann die wahrhafte Rechtfertigung, nicht die geschichtliche, gelehrte, äußerliche. Das Ewige hat nicht im Zeitlichen seine Begründung, in Fakta usf. Jenes ist das Zeugnis des Geistes.

Damit ist denn auch der Standpunkt der Philosophie festgestellt. Erkenntnis der Wahrheit ist Zweck an und für sich selbst, hat nicht ihren Zweck außer ihr in einem Anderen. Ihre Grundbestimmung ist nicht, nützlich zu sein, d. h. seinen Zweck nicht in sich selbst, sondern in einem Anderen zu haben. Es läßt sich dies besser sagen als Aristoteles im ersten Buch seiner Metaphysik. Es ist die höchste Weise der Existenz und Tätigkeit des Geistes, sein Leben in seiner Freiheit. Alle anderen Weisen haben nicht diese Freiheit. Weise der Existenz - Essen und Trinken, Schlafen, Bequemlichkeit des Lebens, Reichtum, Genuß. Geistigere Arten - Recht verteilen, Vaterland verteidigen, Staatsleben - in diesem großen Ganzen der Wirklichkeit. Dort ein beschränkter Zweck, hier allgemein geistige. Aber die Gegenstände der Rechtsverwaltung 10/411 sind selbst beschränkte Zwecke des Eigentums - Staatsleben treibt sich ebenso in zufälligen, gegebenen Einzelheiten; - Religion wie Philosophie [hat] zum Gegenstande den höchsten [Zweck] unbeschränkt, - ist ein Umgehen mit ihm. - Wie die Religion als Pflicht für sich selbst vorgestellt [wird] - das Individuum im Dienste Gottes - ein selbständiges Reich und Leben, zu dem das Individuum als einem Heiligen hinzutritt, nicht nur daraus für sich etwas zu machen, was ihm beliebt und seinen Zwecken dient, sondern in ihm seine eigenen Zwecke vielmehr aufgibt -, so ist die Philosophie [noch] vielmehr die Region, in der der Mensch sein Belieben und seine besonderen Zwecke aufzugeben hat, nicht mehr sich, das Seine sucht, sondern sich dadurch ehrt, dessen teilhaftig zu sein, als eines von ihm Unabhängigen, Selbstbestehenden. Verkehr mit der Philosophie ist als der Sonntag des Lebens anzusehen. Es ist eine der größten Institutionen, daß im gewöhnlichen bürgerlichen Leben die Zeit verteilt [ist] zwischen Geschäften des Werktags, den Interessen der Not, des äußerlichen Lebens, [wo der] Mensch versenkt [ist] in die endliche Wirklichkeit, - und einem Sonntag, wo der Mensch sich diese Geschäfte abtut, sein Auge von der Erde zum Himmel erhebt, seiner Ewigkeit, Göttlichkeit seines Wesens sich bewußt wird. Der Mensch arbeitet die Woche durch um des Sonntags willen, hat nicht den Sonntag um der Wochenarbeit willen. So ist die Philosophie Bewußtsein - Zweck für sich selbst - und aller Zweck für sie. Im wirklichen Leben widmen sich einige Einzelne dem Stande der Religion358) , um ihr Bewußtsein in den anderen aufzuregen, zu erhalten und ihnen behilflich darin zu sein. Vormals hat es auch einen Stand gegeben, der ohne Lehre für andere sich bloß dem Dienste des Ewigen weihte, - Menschen, welche von der übrigen Gesellschaft ausgeschlossen und aufgeopfert [sind], damit dies nutzlose Leben, der von anderen Sorgen und Beschäftigungen unverstrickte Dienst und Beschäftigung im Göttlichen 10/412 existiere. Dieser Stand ist mehr oder weniger verschwunden; aber die Wissenschaft, ebenso dieses interesselose, freie Geschäft, hat zum Teil angefangen, an seine Stelle zu treten; und zur Vollendung dessen, was der Staat in der Wirklichkeit einzurichten hat, gehört auch noch dies, daß für die Existenz der Wissenschaft und insbesondere der Philosophie ein eigener Stand, eine eigene Existenz gewidmet sei. Aber diese völlige Ausscheidung kann nur partiell sein, - die Vernunft fordert zu ihrer Existenz eine ausgebreitetere, weiter sich verzweigende Wirklichkeit. Aber ebenso wesentlich ist, daß der Geist nicht in ihrer Endlichkeit versenkt bleibe, und die Philosophie ist die Region, in welcher er sich als seinem höheren Leben einheimisch wissen und erhalten soll; - dies höhere Selbstbewußtsein macht die Grundlage und Substanz der übrigen, in die Endlichkeiten ausgehenden Lebensbreite aus, - das seine Wurzel, Erleuchtung, Gewährung und Bekräftigung, Heiligung darin findet.

Damit ist auch der Nutzen der Philosophie ausgesprochen, denn vom Nutzen einer Wissenschaft pflegt auch gesprochen zu werden. Die Wahrheit ist um ihrer selbst willen, und alle weitere Wirklichkeit ist eine Verkörperung, äußerliche Existenz derselben; - hier entstehen die anderen Zwecke. Sie ist der Träger, die Substanz derselben. Alles hat nur ein Bleiben, vollführt sich, insofern es seinem Begriffe gemäß, insofern es in der Wahrheit ist. Das Verhältnis zu anderen Zwecken - Zwecken des Lebens oder der Wissenschaft. - Das Tiefste ist auch das Allgemeine (hat seine Anwendung auf alles, aber nicht nur eine äußere Anwendung). Aber ferner wahres Erkennen - das Substantielle - macht den Grund und Träger von allem aus. Alle anderen Zwecke sind untergeordnet, können nur ihre Ausführung und Verwirklichung erlangen dadurch, daß sie der Substanz gemäß [sind] - sonst nichtig in sich selbst. So kann man sagen: Gott ist das Nützlichste, das absolute Nützliche, weil alle 10/413 anderen Existenzen nur in ihm bestehen. So hat alle Bildung der besonderen Wissenschaften [ihren Grund in der Philosophie] -; was in ihnen wahr ist, ist das, was Inhalt der Philosophie ist, - in Lebensverhältnissen, Staatsinstitutionen, was der Idee gemäß ist - dies existiert nicht blind für sich wie die äußere Natur und ihre Erzeugnisse, sondern ist Tat des erkennenden Geistes. Das Wahre und Rechte darin [ist] das Philosophische - so [auch] im wirklichen Leben eines jeden einzelnen, seine Bestimmung - das Substantielle in ihr, ihr Zusammenhang, Stelle im Allgemeinen, ferner die Ansicht des einzelnen, die er vom Wesen der Welt hat, welches Verhältnis er sich zu ihm gibt - das Wahre darin ist Philosophie.

Nutzen in Ansehung des Formellen. Formelle Bildung durch die Philosophie ist das Formelle, Denken überhaupt zu lernen, d. i. das Allgemeine und Wesentliche festzuhalten und das Zufällige, Hindernde fallenzulassen. Abstrahieren lernen; dies ist die erste Befähigung zu irgendeinem Geschäft des Lebens, in dem Konkreten das Allgemeine zu erkennen, den Punkt herauszuheben, auf den es ankommt. Ein ungebildeter Mensch bleibt in einer Sache mit allen ihren zufälligen Umgebungen; in seiner Auffassung, Erzählung verwickelt er sich, wie im Handeln, in die zufälligen Umstände und kommt dadurch um die Sache. Der gebildete Mensch, sowie der Mensch von Charakter, hält sich im Auffassen an das Wesentliche - nur an dieses, und vollführt dies. Und das Studium und Beschäftigung mit der Philosophie ist die fortdauernde Gewöhnung an das Wesentliche, das Verschwindenlassen des Zufälligen, Vergänglichen, so wie sie dem Inhalte [nach] eben dies ist, die absoluten Zwecke und das wahrhafte Sein kennenzulernen.

Weil nun die Philosophie sich mit dem Wesentlichen beschäftigt, so gilt sie für eine schwere Wissenschaft, und die Schwierigkeit wird darein gesetzt, sie zu verstehen. Wir wollen uns kurz noch darüber verständigen. a) Die Philosophie ist allerdings eine schwere Wissenschaft, insofern sie 10/414 die Wissenschaft des Denkens ist; denn das Leichteste ist α) Sehen, Hören, Schmecken, β) sich Vorstellungen vom Hören, Sehen machen; deswegen [ist] z. B. Naturgeschichte eine leichte Wissenschaft, wo man sieht, die Farbe, Gestalten im Raume, fühlt oder, wenn man nicht Gegenwärtiges vorzustellen hat, Sichtbares, Hörbares, Fühlbares usf. [zum Gegenstand hat]. Ferner: die Gedanken, Begriffe, Reflexionen, die darin vorkommen, sind einfachste und deswegen leicht, - Größe. In der Philosophie verläßt man allerdings den Boden des Anschauens, ihre Welt ist im Gedanken; es muß einem Hören und Sehen vergangen sein.

b) Aber noch mehr: nicht nur diese sinnlichen Formen fallen hinweg, sondern überhaupt alle sonstigen Stützpunkte, an die sich das Bewußtsein gewöhnt hat. In unserem gewöhnlichen Vorstellen haben wir Grundlagen, die ihm sonst bei allem bleiben, z. B. Gott bleibt in der Vorstellung feste Grundlage, als ein Subjekt, und alles, was von ihm gesagt wird, wird nur auf diesen Grund aufgetragen, als Eigenschaft; so mein Gefühl und Vorstellung von äußeren Körpern, mein Gefühl von Recht. Es werden die Grundsätze, allgemeinen Vorstellungen, z. B. von Ursache und Wirkung, Kraft, Grund, gebraucht, die man schon hat; man läßt sie gelten, - ein in der Vorstellung vorhandenes Allgemeines bleibt zugrunde liegen, und es werden nur einzelne Bestimmungen hinzugefügt, anders gestellt oder weggenommen. Den ganzen Umfang dessen, was uns so in unserem Vorstellen geläufig ist, einesteils allgemeine Sätze, der Inhalt - Tatsachen des Bewußtseins -, [andern]teils Formen, nennt man zusammen den gemeinen Verstand, gesunden Menschenverstand. Die so gebrauchten Grundsätze, nach welchen der Mensch im gewöhnlichen Leben sich einrichtet, urteilt, [sind eine] Art von Vorurteilen, und es ist ein großer Vorteil eines Menschen, gesunden Menschenverstand zu haben, etwas zu beurteilen, zu tun, was steht und geht, was sich anschließt - gemäß dem Geltenden in der Wirklichkeit, und was daher ausführbar und tunlich ist. Aber der gesunde 10/415 Menschenverstand hat seine Grenzen.359)  In der Philosophie reicht er nicht aus; die Philosophie gibt vielmehr alle diese Stützpunkte, diese Gewohnheiten auf - die gewohnten Anschauungen der Welt, an was er sich im Leben und Denken sonst hält, seinen Begriff vom Wahren, vom Recht, von Gott -

Der Entschluß zu philosophieren wirft sich rein in Denken (- das Denken ist einsam bei sich selbst), - er wirft sich wie in einen uferlosen Ozean; alle die bunten Farben, alle Stützpunkte sind verschwunden, alle sonstigen freundlichen Lichter sind ausgelöscht. Nur der eine Stern, der innere Stern des Geistes leuchtet; er ist der Polarstern. Aber es ist natürlich, daß den Geist in seinem Alleinsein mit sich gleichsam ein Grauen befällt; man weiß noch nicht, wo es hinauswolle, wohin man hinkomme. Unter dem, was verschwunden ist, befindet sich vieles, was man um allen Preis der Welt nicht aufgeben wollte, und in dieser Einsamkeit aber hat es sich noch nicht wiederhergestellt, und man ist ungewiß, ob es sich wiederfinde, wiedergeben werde.

Dieser Standpunkt, diese Ungewißheit, Unsicherheit, dieses Wanken aller Dinge ist oft unter dem Begriffe [gemeint], was man Nichtverstehen heißt. Es wird unter Verstehen dann dies gemeint, daß die philosophischen Ideen von dem ausgehen und sich an das anknüpfen sollen, was man sonst im Gemüt, Gedanken oder Vorstellung besitzt; was diesem, dem gemeinen Menschenverstande gemäß ist, sich anpassend zeigt, versteht man am leichtesten, wie man überhaupt das am leichtesten versteht, was man schon weiß, was im Gedächtnis zugleich am geläufigsten ist. So sind Prediger am leichtesten verständlich, wenn sie geläufige Sprüche aus der Bibel anbringen, Dichter, wenn sie das Bekannte des gemeinen bürgerlichen und häuslichen Lebens darstellen. Das 10/416 Verständlichste ist das, was sich unmittelbar an unseren gewohnten Lebens- und Gedankenkreis anpaßt.

Was den Inhalt betrifft, so ist jenes, das Verständlichsein, zunächst im Anfang allerdings nicht vorhanden; das Gefühl, die Vorstellung haben ihre festen Haltungspunkte unmittelbar vor sich, der Glaube360) , diese natürliche Gewißheit, ist mit der Unmittelbarkeit befriedigt. Aber das Denken, das von sich ausgeht, erkennt dieselben Antworten nur in ihrer sich entwickelnden Notwendigkeit, und es würde nur eine der Sache nicht gemäße Ungeduld sein, die ihre Fragen gleich im Anfang beantwortet, gleich anfangs zu Hause sein wollte. Der Geist darf nicht fürchten, etwas zu verlieren, was wahrhaftes Interesse für ihn hat; es ist seine ...[?], auf welcher das beruht, was sich in der Philosophie für ihn ergibt. Sie wird ihm daher alles wiedergeben, was Wahres in den Vorstellungen ist, welche der Instinkt der Vernunft zuerst hervorbrachte; aber sie wird ... 10/417

354) Bis hierher ist Hegels Rede im 6. Band der Werke (zwischen den Vorreden und der Einleitung der Enzyklopädie von 1830) abgedruckt. Der übrige Text ist nur im Manuskript überliefert.

355) *[am Rand:] β) Enzyklop. auch darum: die Philosophie soll einen positiven Inhalt haben und gewinnen; nicht philosophieren ohne Philosophie.

356) *[darüber:] Gott, Welt, des Menschen Bestimmung

357) *[darüber:] Ihre Bewährung [?] ist nicht Autorität, Glauben.

358) *[darüber:] Staatsveranstaltung

359) *[am Rand:] Das Gewohnte; - früher, vor der Entdeckung Amerikas, war es gegen den gesunden Menschenverstand, daß die Erde rund sei, daß die Sonne stille stehe, daß es schwarze Menschen gebe. - Immer Staaten gegen den gesunden Menschenverstand -.

360) *[am Rand:] hat sich seine Fragen schon beantwortet und hat die bekannten Antworten -
läßt jene Frage und ihre Antworten, Voraussetzungen ganz beiseite liegen. Man bekommt etwas von den Worten zu hören, die durchaus geläufig sind.